Landwirt spritzt Felder
dpa/Patrick Pleul
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Kritik an „Mogel-Indikator“ zur EU-Pestizidreduktion

Im Europaparlament wird aktuell darüber entschieden, ob und in welcher Form die geplante EU-Verordnung zur Pestizidreduktion um 50 Prozent bis 2030 durchgeführt werden soll. In der Kritik steht vor allem die Berechnungsmethode, mit der der Rückgang des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft gemessen werden soll. Umweltorganisationen sprechen von einem „Mogel-Indikator“, der eine „Pestizidreduktion auf dem Papier“ vortäusche, die tatsächliche Wirksamkeit einzelner Pestizide aber außer Acht lasse.

Bis 2030 will die EU den Einsatz von Pestiziden halbieren. Dafür soll etwa die biologische Landwirtschaft gefördert werden, die ohne chemisch-synthetische Wirkstoffe auskommt. Der Rückgang des Pestizideinsatzes soll auf Vorschlag der EU-Kommission mit einer bestimmten Indikator gemessen werden: dem sogenannten „Harmonised Risk Indicator“ (HRI1). Die Umweltorganisation Global 2000 und das deutsche Umweltbundesamt üben laute Kritik an den Berechnungsmethoden dieses Risikoindikators. Für den Indikator werden die Pestizide in vier Gruppen eingeteilt: Wirkstoffe mit niedrigem, mit normalem und besonders hohem Risiko, sowie Pestizide, die in der EU nicht mehr zugelassen sind. Je nach Gruppe werden die Verkaufszahlen mit einem Faktor von 1 bis 64 multipliziert.

Rückwirkender Risikoaufschlag verzerrt Reduktion

Einer der schweren, konzeptionellen Fehler dieses Indikators sei, dass Pestiziden, die ihre Zulassung verloren haben, rückwirkend ein vielfach höheres Risiko angelastet wird als das zuvor der Fall war, sagt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr verwendet werden. Meist werde der Risikofaktor von 8 auf 64 erhöht. Damit werde der Startpunkt, von dem aus eine Risikoreduktion berechnet werde, künstlich angehoben, so Burtscher: „Dieses Vorgehen täuscht ein Risiko auf dem Papier vor, das in der Wirklichkeit auf dem Feld nicht gegeben ist“.

Das zeigt auch eine Auswertung des deutschen Umweltbundesamts. So sind zwischen 2011 und 2021 die Verkaufszahlen von Pestiziden in der EU annähernd gleich geblieben; mit Schwankungen im einstelligen Prozentbereich. Wendet man jedoch den Risikoindikator „HRI 1“ auf die Verkaufszahlen an, zeigt sich ein völlig anderes Bild: gewichtet nach Risikoklassen, sinken die Absatzzahlen innerhalb der zehn Jahre um ganze 50 Prozent. Ein völlig verzerrtes Bild, lautet die Kritik, da die absolute Menge an Pflanzenschutzmitteln gleichgeblieben sei, die Reduktion nur auf dem Papier stattfinde.

Global 2000: „Völlig absurde Berechnung“

Es gibt aber noch ein zweites Problem mit dem „Harmonised Risk Indicator“ der EU-Kommission, kritisiert Helmut Burtscher: in die Berechnungsmethode fließen nämlich lediglich die Absatzzahlen nach Gewicht ein, die tatsächliche Wirksamkeit einzelner Pestizide werde außer Acht gelassen. Als Beispiel nennt der Biochemiker Insektizide, die als Nervengifte wirken. Damit seien diese Stoffe in der Lage, bereits in winzigsten Konzentrationen für Insekten tödlich zu sein. Bei manchen Insektiziden würden weniger als zehn Gramm auf einem Hektar ausreichen, um etwa sämtliche Blattläuse zu töten, so Burtscher.

Wenn in der biologischen Landwirtschaft bei Problemen mit Blattläusen Rapsöl verwendet werde, das ebenfalls als Insektizid zugelassen ist, benötige man zehn Liter pro Hektar. Rapsöl wirke dabei nicht toxisch, sei also weder für Insekten noch für andere Tiere tödlich. Das Öl bilde vielmehr eine physikalische Barriere auf dem Blatt, die es der Blattlaus schwieriger mache, die Blätter anzuknabbern, so der Biochemiker. „Dennoch berechnet der Indikator für eine Rapsöl-Anwendung auf einem Hektar tatsächlich ein tausendfach größeres Risiko als für den Einsatz eines Nervengifts, was völlig absurd ist“, so Helmut Burtscher-Schaden.

AGES: Berechnungsmethode ist „Herausforderung“

Auch für die AGES, die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, stellt die Berechnungsmethode des „HRI 1“ als eine „Herausforderung“ dar, wie sie help.ORF.at in einer schriftlichen Stellungnahme mitteilt: Problematisch seien vor allem Wirkstoffe mit hoher Hektar-Aufwandmenge wie Schwefel oder Backpulver, deren Verkaufsmengen überproportional in den Risikoindikator einfließen.
Vom Landwirtschaftsministerium wollte man gegenüber help.ORF.at zum „HRI 1“ nichts sagen: für die anstehende Abstimmung darüber im Europaparlament sei der dortige Ausschuss zuständig, so das Ministerium.

Es sei Global 2000 nicht gelungen, Informationen darüber zu bekommen, wie im europäischen Fachausschuss die Entscheidung für diesen Indikator zustande gekommen sei, sagt Helmut Burtscher-Schaden. Der Dachverband der europäischen Pestizidhersteller, „CropLife Europe“, sei jedenfalls der Erste gewesen, der diesen Indikator gelobt habe, so Burtscher: „Und meines Erachtens nach sind die Vertreter der Industrie bis heute die Einzigen, die sich das in aller Öffentlichkeit getraut haben“.

Umweltbundesamt (D) sieht Festhalten an „handwerklichem Fehler“

Anhand des Aufbaus des Indikators sehe man keine Anzeichen, dass hier gezielt versucht worden sei, damit zu manipulieren, sagt Biologe Jörn Wogram, Leiter des Fachgebiets Pflanzenschutzmittel des Umweltbundesamts in Deutschland. Man könne annehmen, dass es sich um einen handwerklichen Fehler handle. Dass man an diesem Indikator allerdings festhalte, dürfte politische Gründe haben, meint Wogram: „Wenn man den Indikator so verändert, dass die Risiken realistisch abgebildet werden, würde das einen viel größeren politischen Handlungsdruck erzeugen“. Das sei politisch unattraktiv, so der Biologe.

Um die Fehler des Risikoindikators „HRI 1“ auszumerzen, hat das deutsche Umweltbundesamt einen Korrekturvorschlag ausgearbeitet. Dabei sei es das Wichtigste, als Erstes den Genehmigungsstatus der Wirkstoffe als Basis für den Indikator herauszunehmen, so Jörn Wogram. Das sei ein rein formaler Status und kein fachliches Maß für die Risiken, die von den Wirkstoffen ausgehen. Als Zweites dürfe man nicht ausschließlich die Verkaufszahlen der Mittel als Grundlage verwenden. Vielmehr müssten die Verkaufszahlen durch die Wirksamkeit der Mittel, und damit auch deren Umweltgefährlichkeit geteilt werden, so Wogram. Zudem sei das Umweltbundesamt der Ansicht, dass es weitere Indikatoren brauche. Ergänzend zu einem Risikoindikator etwa auch einen Indikator, der die Größe der landwirtschaftlichen Flächen mit einbezieht, auf der keine Pestizide verwendet werden. „Wir meinen, dass der Anteil dieser Flächen steigen muss, um das Ziel eines besseren Schutzes der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft auch wirklich zu erreichen“, so Jörn Wogram.

Entscheidung liegt beim Europaparlament

Am kommenden Mittwoch, den 22. November 2023, wird im Europaparlament darüber entschieden, ob der umstrittene Risikoindikator „HRI 1“ nun tatsächlich kommen wird oder nicht. Außerdem wird über die gesamte EU-Verordnung zur Pestizidreduktion abgestimmt. Helmut Burtscher von Global 2000 sieht eine reale Gefahr, dass sich die Parlamentarier gegen den Gesetzesvorschlag für die Pestizidreduktion entscheiden. Damit würden auch die formulierten Ziele verschwinden. „Wenn es der Europäischen Volkspartei gelingt, eine Mehrheit zu finden, gemeinsam mit den liberalen und den rechten Parteien, ist der Gesetzesvorschlag vom Tisch“, so Burtscher. Dann gebe es auch keine verpflichtende Verwendung von integriertem Pflanzenschutz mehr, der vorschreibt, dass man erst als letztes Mittel zu den chemischen Giften greifen darf und davor vorbeugende, biologischen Maßnahmen setzen muss, so Helmut Burtscher-Schaden.