EU-Kommission will EU-weit Sammelklagen einführen

Massenhafte Flugstornierungen bei Ryanair, fehlerhafte Hüftimplantate und mangelhafte Beratung bei Schweizer-Franken-Krediten – Verbraucher in Europa sollen künftig einfacher ihre Rechte gegen große Firmen durchsetzen können. Seit dieser Woche sind die europäischen Gesetzgeber einer Richtlinie näher. Doch es gibt noch einige Streitpunkte, wie EU-weite Sammelklagen aussehen sollen.

In vielen EU-Ländern gibt es bisher keine oder nur unzureichende Gesetzesgrundlagen bei Sammelklagen. Zuletzt zeigte der VW-Abgasskandal, der 2015 publik wurde, die Defizite der bisherigen Rechtslage. Während Konsumentinnen und Konsumenten in den USA bereits Entschädigungen zugesprochen bekamen, bleiben viele europäische Betroffene bis heute ohne Kompensation, so auch in Österreich.

Österreich stimmte nicht dafür

Als Reaktion auf den VW-Skandal legte die EU-Kommission im April 2018 einen Vorschlag vor, der es Verbraucherschutzorganisation ermöglichen soll, Konzerne stellvertretend für Konsumenten zu klagen und Ansprüche auf Schadenersatz, Preisminderung und Ersatzlieferungen zu erwirken. Das EU-Parlament nahm den Vorschlag heuer im März an. Die Mitgliedsstaaten sprachen sich nun mehrheitlich für die EU-weite Sammelklage, auch Verbandsklage genannt, aus. Österreich enthielt sich seiner Stimme bei der Abstimmung. Doch es gibt noch einige Streitpunkte, über die sich nun die EU-Kommission, das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten einig werden müssen.

Streit über Finanzierung von Sammelklagen

Ein strittiger Punkt betrifft die Finanzierung von Sammelklagen. Sammelklagen sind mit hohen Prozesskosten verbunden. Ein zusätzlicher Kostenfaktor sind die Informationskampagnen, um betroffenen Konsumentinnen und Konsumenten über anstehende Sammelklagen zu informieren. „Drittfinanzierung ist wichtig, wenn das Prozessrisiko sehr hoch ist und eine Non-Profit-Verbraucherschutzorganisationen einfach nicht die Mittel aufwenden kann, um ein solches Prozessrisiko zu tragen“, so Ursula Pachl, Stellvertretende Direktorin des europäischen Verbraucherschutzverbandes BEUC.

Die Wirtschaftskammer (WKO) lehnt externe Prozessfinanzierung ab. „Geschäftszweck einer Prozessfinanzierungsgesellschaft ist es, eine möglichst hohe Erfolgsbeteiligung zu erreichen. Bis zu 50 Prozent des erstrittenen Geldes gehen an diese Gesellschaft“, so eine Sprecherin der WKO gegenüber help.orf.at. Es liege daher auf der Hand, dass die Interessen der betroffenen Verbraucher nur an zweiter Stelle stehen würde.

Angst vor amerikanischen Verhältnissen

„Wenn Verbraucher einen bestimmten Prozentsatz abgeben müssten, ist das besser als die jetzige Situation, in der Verbraucher überhaupt keine Möglichkeit haben vor Gericht zu gehen“, meint Pachl. 50 Prozent seien übertrieben, erklärt die Verbraucherschützerin, es gebe in vielen Mitgliedsstaaten nationale Regelungen, die so etwas unterbinden könnten. Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass das Instrument der Sammelklage missbraucht werden und zu einer Klageflut führen könnte.

„Class-Actions“, die US-Form der Sammelklage, dient manchen als Geschäftsmodell und hat zu Klagehäufung und hohen Anwaltskosten geführt. Diese Angst vor „amerikanischen Verhältnissen“ sieht Petra Leupold vom Verein für Konsumenteninformation (VKI) als unbegründet. Das Rechtssystem in den USA und Europa sei schlicht ein anderes, „da wir dieses Rechtssystem nicht haben. Es gibt dieses erpresserische Geschäftsmodell nicht“, so Leupold.

VKI: Erreichen maximal fünf Prozent der Geschädigten

Ein Streitpunkt ist, ob bei einer Sammelklage alle geschädigten Konsumentinnen und Konsumenten automatisch miteingeschlossen sind oder, ob sich Geschädigte aktiv einer Klage anschließen müssen - also ob es eine „Opt-in“ oder „Opt-out“-Variante gibt. Der Kommissionsvorschlag sieht vor, dass jedes EU-Land selbst entscheidet, welche Variante eingeführt werden soll. Das österreichische Wirtschaftsministerium spricht sich für die „Opt-in“-Variante aus. „Verbraucher sollen aktiv erklären müssen, ob sie sich einem Verbandsklageverfahren anschließen“, so eine Sprecherin des Ministeriums gegenüber help.orf.at.

In der Praxis stelle das für Verbraucherschutzorganisationen eine Herausforderung dar, so Leupold. Denn der VKI erreiche nur einen Bruchteil der Betroffenen. „Auch bei breitester Öffentlichkeitsarbeit in Massenschadenfällen bekommen wir maximal fünf Prozent der betroffenen Konsumenten dazu, an Sammelklagen oder Gruppenklagen teilzunehmen.“ Beim VW-Abgasskandal hätten sich nur 2,7 Prozent der Geschädigten der VKI-Klagen angeschlossen. Auch aus Marktgesichtspunkten sei das das problematisch, so die Verbraucherschützerin, „weil es bedeutet, dass sich Unrecht lohnt“. Leupold lobbyiert deshalb dafür, dass eine Gerichtsentscheidung für alle geschädigten Kunden gelten solle.

„Sammelklage österreichischer Prägung“

VKI-Expertin Leupold erhofft sich durch den Kommissionsvorschlag eine Verbesserung. Der VKI arbeitet derzeit mit einer „Sammelklage österreichischer Prägung“. „Dabei handelt es sich jedoch um eine Behelfslösung aus Mangel an anderen Möglichkeiten“, so Leupold. Es sei massiv ressourcen- und kostenintensiv so die Verbraucherschützerin.

Im VW-Abgasskandal musste der VKI etwa vor jedem der sechzehn Landesgerichte Österreichs eine eigene Klage einreichen. In den laufenden Verfahren wird geprüft, ob österreichische Gerichte überhaupt für die Klage zuständig sind, da der Firmensitz von VW in Deutschland ist. Auch hier erhofft sich Leupold Abhilfe. Der Kommissionsvorschlag soll eine gesetzliche Grundlage schaffen, damit Verbraucherschützer auch Konzerne mit Firmensitz im Ausland klagen können.

Wo Sammelklagen künftig eingesetzt werden

Auch zu klären ist, in welchen Bereichen die Sammelklage angewandt werden kann - nur im klassischen Kauf- und Gewährleistungsrecht oder auch darüber hinaus. Das Wirtschaftsministerium sieht den derzeitigen Vorschlag, der auch die Bereiche Finanzdienstleitung, Telekommunikation, Verkehr und Umwelt umfasst, als zu umfangreich und unverhältnismäßig. „Zwei Drittel der Beschwerden, die bei uns eingehen, betreffen nicht das klassische Kaufrecht oder Gewährleistungsrechte, sondern Reise, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen“, so Leupold. Aus Verbraucherschutzperspektive sei der breite Rahmen daher begrüßenswert.

Julia Schönherr aus Brüssel für help.ORF.at

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